Article Number: 10355
Hard Cover, German, Thread Stitching, 56 Pages, 2013, Secession
Dominik Lang

Expanded Anxiety

€ 35.00

Der tschechische Künstler Dominik Lang entwickelt für seine Ausstellung Expanded Anxiety in der Galerie der Secession eine Reihe von Werken, in denen er Elemente der kubistischen Skulptur und Architektur neu interpretiert.

Für seine titelgebende Installation im hinteren Galerieraum rekonstruiert er die bekannte Statue Ùzkost [Angst] (1911/12) des Bildhauers Otto Gutfreund in einer vergrößerten, für den Ausstellungsraum adaptierten Form, welche die BesucherInnen die Skulptur neu erleben und in ihr Inneres vordringen lässt.

Lang befragt in seinen Interventionen und Inszenierungen die vielschichtigen Beziehungen zwischen BetrachterInnen und Objekt, Objekt und Raum, subjektiver Wahrnehmung und Historisierung. Wiederholt hat er sich mit der tschechischen Moderne auseinandergesetzt und seinen persönlichen Zugang zur (Kunst-) Geschichte demonstriert. Die neu entwickelten Vitrinenarchitekturen und Skulpturen, die er im ersten Ausstellungsraum zeigt, sind beispielhaft für den freien, fiktiven Dialog, den er in seinen Arbeiten immer wieder mit Werken seiner Vorgänger – Josef Gočár, Vlastislav Hofmann, Pavel Janák, u.a. – entspannt. Zugleich etabliert er mit dieser Präsentation einen erweiterten Kontext und eine (historische) Einstimmung für seine Installation Expanded Anxiety im hinteren Raum der Galerie.

Expanded Anxiety basiert auf der Statue Ùzkost [Angst/Anxiety] (1911-12) des tschechischen Bildhauers Otto Gutfreund (1889 Dvůr Králove 1927 Prag) aus der Sammlung des Nationalmuseums in Prag. Gutfreund hatte in Paris studiert und gilt als einer der ersten VertreterInnen des tschechischen Kubismus. Dominik Lang: „Der Stil der Statute ist expressionistisch-kubistisch, die gebrochenen Oberflächen und scharfen Ecken betonen die Spannung in der Figur, ihre Konzentration und ihren Schwerpunkt auf dem Inneren – meiner Ansicht nach versucht die Skulptur nicht, sich in den Raum zu erweitern und sich zu zeigen, sondern sie vermittelt eher das Gefühl, sich selbst in die komprimierteste, aufs Äußerste zusammengedrückte Form reduzieren zu wollen.“*

Die 156 cm große Statue Gutfreunds wird von Lang in einer den Ausstellungsraum ausfüllenden Größe reproduziert und liegend präsentiert. In Bezug auf die möglichen Wahrnehmungen der ursprünglichen Skulptur erzeugt der Künstler eine nahezu paradoxe Situation: Die monumentale Figur ist so platziert, dass die BetrachterInnen zwar buchstäblich in ihr Inneres vordringen können, ihre „eigentliche“, äußere Form ist jedoch nicht sichtbar, sondern bleibt der Imagination vorbehalten.

Dazu der Künstler: „Ich versuche, ein Gefühl körperlicher Spannung und Isolation in den BetrachterInnen zu erzeugen, indem ich sie mit dem Inneren der skulpturalen Form umgebe. Das Ziel besteht nicht darin, etwas Monumentales zu schaffen, den ganzen Raum einzunehmen, sondern eher eine Situation hervorzurufen, in der sich die Größenordnungen plötzlich verändert haben und die BesucherInnen in Dinge und Objekte hineingehen können, die sie gewöhnlich nur von außen ansehen. Es ist so, als würde man in den Kopf einer anderen Person eintreten, es geht um die Offenlegung des verborgenen Zentrums und darum zu zeigen, dass vielleicht eben genau die Leere in den Dingen wichtig ist. Die Idee war auch teilweise, den oder die Besucherin zurück in die Zeit zu führen und durch den inneren Körper der Skulptur selbst auf die Vergangenheit zu blicken, auf die Atmosphäre um das Jahr 1911, auf die Wartezeit voller Unsicherheit und Angst unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg.“*

Lang lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf das historische Werk, sondern gleichermaßen auf den eigenen Standpunkt. Letztlich wirft Lang die BetrachterInnen dadurch auf die Frage zurück, wie (historische) Bedeutung überhaupt konstruiert werden kann: „Ich würde sagen, ich bin daran interessiert, wie Objekte – und in diesem Fall Kunstwerke – geformt, beeinflusst, von ihrer Umgebung bestimmt sind, wie sie vom Kontext, von geschichtlichen Ereignissen, den geistigen Zuständen ihrer SchöpferInnen konstituiert werden. Was sagen die Werke über die Zeit und soziale Atmosphäre aus, in der sie entstanden, werden sie selbst zu Wesen mit Erinnerungsvermögen, zu Opfern ihrer Zeiten usw.? (…) Indem sie körperlich in die Leere eintreten, werden die BesucherInnen zurück in die Zeit gehen und aufs Neue in die Vergangenheit eindringen, genauso wie sie einen neuen, ganz besonderen Ort voller verdichteter Angst erleben, eine erweiterte Angst, die eine Zeitspanne des frühen 20. Jahrhunderts mit der Gegenwart verbindet und bis zu den Angstgefühlen der Gegenwart reicht.“*

Langs Verhältnis zu Gutfreund und seinen interpretierenden Dialog mit dessen Werk beschreibt Karel Císař in seinem Katalogessay: „Gutfreunds Úzkost scheint sich dieser Idee einer schwindelerregenden Auflösung der menschlichen Persönlichkeit nur anzunähern – wohingegen Langs Expanded Anxiety ihre verspätete, folgerichtige Erfüllung darstellt. Mit der einzelnen Betrachtungsperspektive seiner kleiner als lebensgroßen Skulptur, einer knienden Frau, verordnet Gutfreund den BetrachterInnen eine liminale Annäherung, indem er sie die Ränder der Figur genau untersuchen lässt, die in das physische Volumen der Statue wie in einen Fels eintauchen. Lang hingegen lädt uns in das Innenleben eines enthüllten Körpers ein, der sich in eine zerfurchte Höhle verwandelt hat. So radikalisiert er Gutfreunds Bemühen, Skulpturen flach zu machen – was in einem geschlossenen Volumen, wie es einem Bildhauer im frühen 20. Jahrhundert verfügbar war, unmöglich ist –, ruft aber auch und in erster Linie die beabsichtigte Wirkung von Schwindel und eines Verlusts von Individualität hervor, welche durch den Wegfall optischer Kontrolle entsteht. Gleichzeitig bewahrt Lang sein systematisches Interesse an den physischen und institutionellen Aspekten des Ausstellungsraums, wenn seine Intervention die gedrückte, unterirdische Atmosphäre der unteren Galerie der Secession hervorhebt und an die Tradition, einen leeren Ausstellungsraum zu zeigen, anknüpft. Wir dringen in das Innenleben von Expanded Anxiety ein, als würden wir den leeren Grabraum unseres eigenen Körpers betreten.“ (Katalgotext)

Einem internationalen Publikum wurde Dominik Lang unter anderem durch seine Arbeit Sleeping City bekannt, mit der er 2011 auf der 54. Venedig Biennale den Pavillon der Tschechischen und Slowakischen Republiken bespielte. Die Installation, in der er die unbekannten spätmodernistischen Skulpturen seines Vaters Jiři Lang (1927–1996) interpretierte, verbindet zwei künstlerische Ansätze, die durch unterschiedliche Perioden und Kontexte geprägt sind. Sie ermöglicht die Begegnung mit einer vergessenen Generation, verdeutlicht jedoch durch das immanente Wechselspiel zwischen persönlichem Engagement und distanzierter Beobachtung, zwischen individueller Erinnerung und kollektivem Gedächtnis, immer auch die Unmöglichkeit, sich der (eigenen) Vergangenheit zu stellen.

Sprache: Deutsch